29 November 2006
Tod feststellen
Seit fast dem Beginn meines stage hier behandelten wir eine junge HIV-Patientin mit einer ausgeprägten Candidose (einer häufigen Manifestation bei HIV-Positivität) . Bei ihr war der ganze Magen-Darm-Trakt befallen, sprich von Mund bis Anus. Das Schlucken fiel ihr äusserst schwer, die Verdauung funktionierte nicht richtig, sie hatte wochenlang Durchfall. Daneben noch eine Anämie, dazwischen mal eine Bluttransfusion. Sie hatte eine CD4+-Zahl von 4, die normalen Werte liegen bei 500 aufwärts - sprich: ihr Körper hatte praktisch null Möglichkeit mehr, sich gegen irgendwelche Infektionen zu wehren. Und von ärztlicher Seite kommt man diesen ständig neuen Infekten auch mit allen Antibiotika, Antimykotika und anderen Medikamenten nicht mehr bei. Vor einigen Tagen hatte sie so die Nase voll, dass sie austreten wollte - ich hatte sie im Klinikbuch bereits ausgetragen. Nach einem Gespräch mit dem Bruder konnte sie doch noch dazu bewegt werden, weiter zu bleiben. Dr. Justin machte deutlich, dass sie ausserhalb des Spitals kaum länger als einen Tag überleben würde, und auch hier im Spital näher dem Grab als dem Leben sei. Nachdem es ihr gestern eher etwas besser ging, kam mir heute morgen früh die Krankenschwester mit Blutdruckmessgerät entgegen und bat mich, ins Zimmer zu gehen. Ich war etwas früher ins Spital gegangen, um vor Arbeitsbeginn noch einige Blutuntersuchungs-Bons auszufüllen und war daher noch die einzige Anwesende von ärztlicher Seite. Beim Losgehen wollte ich wissen, wie hoch der Blutdruck sei - sie hatte keinen mehr messen können. Im Zimmer fand ich die Patientin in den Armen der heulenden Grosmutter, um mich herum eine ganze Menge weiterer heulender Angehörige. Ich hatte noch nie den Tod einer Person festgestellt, wusste nicht genau wie man das hier macht, wusste eigentlich sowieso nichts - aber war halt dort. Ich suchte den Puls, versuchte eine Herzaktion zu hören und war mir nicht sicher, ob das was ich hörte nun das Herz der Grossmutter oder vielleicht doch noch dasjenige der Patientin war, die leblos in den Armen der Grossmutter hing. Ich stützte den Kopf, der sonst nach hinten zu fallen drohte, und leuchtete in die Augen: beidseitige areaktive Mydriase. Ich wusste nicht, wie man sich hier den Angehörigen gegenüber verhalten sollte, sollte man sie halten, sollte man bleiben, sollte man gehen? Wie schon früher einmal beim Tod einer anderen AIDS-Patientin erlebt, heulten schrien und sangen die Angehörigen während 1 1/2 Stunden im Zimmer der Verstorbenen. Es tut einerseits sehr weh, dies zu hören. Andererseits tut mir das auch wahnsinnig gut. Ich hätte gern, wenn auch in der Schweiz die Angehörigen beim Tod einer Patientin laut weinen, heulen, singen würden. Damit der Tod nicht so still und klanglos mit der genommenen Seele wegschleicht und die Umgebung mit nichts als betäubender Stummheit zurückbleibt und wartet. Es ist ein Abschiednehmen, ein Trauern, das sich der Umgebung mitteilt, kein stilles Hinnehmen, sondern ein aktives Gehen, ein Geleit der Verstorbenen an einen anderen Ort bei dem man ihr mitteilt, das sie nicht allein bleiben werde, sondern man ihr irgendwann folge.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen